Seit etwa 20 Jahren gibt es einen neuen „Trend“ im Bereich der Erziehungsmethoden: Die bedürfnisorientierte Erziehung findet immer mehr Anhänger. Doch welches Konzept verbirgt sich dahinter und welche Bedürfnisse sind hier eigentlich gemeint?
Kinder zu selbstbewussten und empathischen Menschen zu erziehen, ist wahrscheinlich das Ziel der meisten Eltern. Die bedürfnisorientierte Erziehung soll genau dies verfolgen, und zwar, indem unter anderem den Bedürfnissen des Kindes grundsätzlich stattgegeben wird. Bedeutet dies, dass den Kindern jeglicher Frust erspart wird?
Bedürfnisorientierte Erziehung im Detail
In den 1980er Jahren hat der US-amerikanische Kinderarzt Dr. William Sears den Begriff der bedürfnisorientierte Erziehung geprägt. Dieser orientiert sich stark an den Grundbedürfnissen von Babys und Kindern. Wenn Eltern auf die Bedürfnisse des Nachwuchses achtsam reagieren, fördert und stärkt dies die frühkindliche Bindung zwischen Eltern und ihren Kindern.
Grundlage für eine bindungsorientierte Elternschaft sind nach Sears die sieben Baby-B’s:
- Birth Bonding: Körperkontakt nach der Geburt
- Breastfeeding: das Stillen
- Babywearing: das Tragen der Babys so viel wie möglich
- Bedding close to baby: ein Familienbett, in dem das Baby dicht bei den Eltern schläft
- Belief in the language value of your baby’s cry: sensibel auf den Schrei eines Babys reagieren
- Beware of baby trainers: Ratschlägen gegenüber kritisch sein
- Balance: auch die eigenen Bedürfnisse ernst nehmen
Dieser letzte Punkt wird leicht übersehen, wenn sich kritisch mit der bedürfnisorientierten Erziehung befasst wird. Denn nicht nur die Bedürfnisse des Kindes spielen hier eine Rolle, sondern die aller Familienmitglieder. Wer sich nur nach dem Kind richtet, verliert leicht sein eigenes Ich aus dem Blick. Dabei sind ausgeglichene, zufriedene Eltern der Schlüssel zu ausgeglichenen und zufriedenen Kindern.
Die bedürfnisorientierte Erziehung wird oftmals mit der bindungsorientierten Erziehung gleichgesetzt, da der Bindungsprozess zwischen Eltern und Kind im Mittelpunkt steht. Die Grundlage für eine gesunde Entwicklung des Kindes bildet eine sichere Verbindung zu seiner Bezugsperson. Und dies ist nur möglich, wenn man die Grundbedürfnisse des Babys nach Sicherheit, Zuwendung, körperlicher Nähe und Nahrung umgehend erfüllt.
Wenn ein Kind darauf vertrauen kann, dass seine Bedürfnisse adäquat gestillt werden, fühlt es sich geborgen. Hierbei muss explizit zwischen Wünschen und Bedürfnissen unterschieden werden. So ist ein weiteres Spielzeug zu bekommen kein Grundbedürfnis, zu essen, wenn der Hunger plagt, hingegen schon.
Werden Kinder dadurch nicht zu sehr verwöhnt?
Hinter der bedürfnisorientierten Erziehung ist nicht zu verstehen, dass Kinder alles bekommen, was sie möchten. Die Sorge, Babys und Kinder „zu sehr zu verwöhnen“, ist von daher unbegründet. Vielmehr gehen Befürworter dieser Erziehung davon aus, dass hinter jedem unerwünschten Verhalten des Kindes ein unerfülltes Bedürfnis steht.
Wenn dein Kind nach der Kita im Supermarkt zum Beispiel einen Wutanfall bekommt, ist das mögliche Bedürfnis dahinter, dass das Kind überfordert und müde ist. Höchstwahrscheinlich braucht es nach einem anstrengenden Kita-Tag etwas Ruhe. Anstatt es nun mit einem „Hör auf zu weinen!“ in die Schranken zu weisen, gehen bedürfnisorientierte Eltern auf das mögliche Bedürfnis hinter dem Gefühl „Wut“ ein. Sie fragen stattdessen, ob das Kind vielleicht nach Hause möchte und bieten den Kompromiss an, noch schnell zu bezahlen und anschließend direkt in die Kuschelecke daheim zu gehen.
Wenn sich Kinder mitten in der Autonomiephase befinden, korreliert die kindliche Bereitschaft, mit dem Umfeld zu kooperieren, mit dem gleichzeitigen Wunsch nach Selbstständigkeit. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Kinder ihre Eltern tyrannisieren wollen. Das Streben nach Autonomie ist vielmehr auch ein Bedürfnis. Kinder möchten in dieser Zeit möglichst viel selbst machen und dies geht oft mit großen Gefühlsausbrüchen einher.
Doch Kinder müssen auch in der bindungsorientierten Erziehung lernen, dass es neben der Erfüllung der eigenen Bedürfnisse auch darum geht, Teil eines sozialen Miteinanders zu sein, in dem die individuellen Wünsche nicht immer deckungsgleich sind. Die Folge ist ein ausgeprägtes Trotzverhalten, was die Kinder jedoch nicht gezielt dafür nutzen, um die Eltern zu manipulieren.
Eltern, die diesen kindlichen Trotz- und Wutanfällen mit Verständnis begegnen, können auf diese auch angemessen reagieren. Liebevolle Gelassenheit im Umgang mit den Gefühlen hilft den Kindern, soziale Kompetenzen zu entwickeln.
Auch Grenzen setzen, spielt in der bedürfnisorientierten Erziehung eine Rolle
Grundsätzlich begegnen bedürfnisorientierte Eltern ihren Kindern mit Respekt und auf Augenhöhe. Kinder werden in Entscheidungen, die sie betreffen, mit einbezogen und nicht manipuliert, um ein bestimmtes Verhalten zu erzielen. Liebe und Zuneigung werden nicht an Bedingungen geknüpft.
Nun klingen diese Punkte in der Theorie ganz wunderbar, doch im stressigen Alltag ist es oft schwer, dem wütenden Kleinkind liebevoll und verständnisvoll zu begegnen. Wer jedoch früh eine angstfreie und vertrauensvolle Beziehung zu seinen Kindern etabliert, hat es später deutlich einfacher, wenn die Kinder größer werden.
Die bedürfnisorientierte Erziehung ist übrigens keinesfalls frei von Regeln und Grenzen. Kinder, die so erzogen werden, dürfen weder über Tische klettern, noch Essen umher spucken oder andere hauen. Dies hat nämlich nichts mit Bedürfnissen zu tun. Für das Zusammenleben gibt es durchaus Regeln, an die sich alle Familienmitglieder halten müssen.
Eltern müssen einen Rahmen schaffen, der den Kindern Halt und Orientierung gibt. Zu diesem Rahmen gehören Regeln und Grenzen. Auf ein elterliches „Nein“ kann durchaus auch Wut folgen. Bedürfnisorientiert erziehende Eltern lassen Kinder hiermit allerdings nicht alleine, sondern zeigen Verständnis, statt zu schimpfen, da dies die negativen Gefühle nur noch verstärken würde.
Wie oben bereits erwähnt, zählen bei der bedürfnisorientierten Erziehung nicht nur die Bedürfnisse der Kinder, sondern auch die der Eltern. Auch Mama und Papa sollten Zeit finden, um ihren Hobbys oder dem Bedürfnis nach Ruhe und Entspannung nachzugehen. Sollten die individuellen Bedürfnisse nicht vereinbar sein, müssen Prioritäten gesetzt und Kompromisse gemacht werden.
Diese Kompromisse können mitunter zu Frust führen, doch dafür ist in der bedürfnisorientierten Erziehung auch Platz, schließlich müssen alle Familienmitglieder lernen, mit dem gesamten Gefühlsspektrum umzugehen.
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Quelle: ndr.de, projuventute.ch, nestliebe.de, babelli.de, derstandard.de, attachment-parenting.de
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